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Ich ging ins Badezimmer, kippte etwas von dem Badezeug, das Monika Silvs mir hingestellt hatte, in die Wanne und drehte den Heißwasserhahn auf. Baden ist fast so gut wie schlafen, wie schlafen fast so gut ist, wie »die Sache« tun. Marie hat es so genannt, und ich denke immer in ihren Worten daran. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß sie mit Züpfner »die Sache« tun würde, meine Phantasie hat einfach keine Kammern für solche Vorstellungen, so wie ich nie ernsthaft in Versuchung war, in Maries Wäsche zu kramen. Ich konnte mir nur vorstellen, daß sie mit Züpfner Menschärgere-dich-nicht spielen würde - und das machte mich rasend. Nichts, was ich mit ihr getan hatte, konnte sie doch mit ihm tun, ohne sich als Verräterin oder Hure vorzukommen. Sie konnte ihm noch nicht mal Butter aufs Brötchen streichen. Wenn ich mir vorstellte, daß sie seine Zigarette aus dem Aschenbecher nehmen und weiterrauchen würde, wurde ich fast wahnsinnig, und die Einsicht, daß er Nichtraucher war und wahrscheinlich Schach mit ihr spielen würde, bot keinen Trost. Irgend etwas mußte sie ja mit ihm tun, tanzen oder Kartenspielen, er ihr oder sie ihm vorlesen, und sprechen mußte sie mit ihm, übers Wetter und über Geld. Sie konnte eigentlich nur für ihn kochen, ohne dauernd an mich denken zu müssen, denn das hat sie so selten für mich getan, daß es nicht unbedingt Verrat oder Hurerei sein würde. Am liebsten hätte ich gleich Sommerwild angerufen, aber es war noch zu früh, ich hatte mir vorgenommen, ihn gegen halb drei Uhr früh aus dem Schlaf zu wecken und mich mit ihm ausgiebig über Kunst zu unterhalten. Acht Uhr am Abend, das war eine zu anständige Zeit, ihn anzurufen und ihn zu fragen, wieviel Ordnungsprinzipien er Marie schon zu fressen gegeben hatte und welche Provision er von Züpfner bekommen würde: ein Abtkreuz aus dem dreizehnten Jahrhundert oder

eine mittelrheinische Madonna aus dem vier-

zehnten. Ich dachte auch darüber nach, aufweiche Weise ich ihn umbringen würde. Ästheten bringt man wohl am besten mit wertvollen Kunstgegenständen um, damit sie sich noch im Tode über einen Kunstfrevel ärgern. Eine Madonna wäre nicht wertvoll genug und zu stabil, dann könnte er noch mit dem Trost sterben, die Madonna wäre gerettet, und ein Gemälde ist nicht schwer genug, höchstens der Rahmen, und das gäbe ihm wieder den Trost, das Gemälde selbst könnte erhalten bleiben. Von einem wertvollen Gemälde könnte ich vielleicht die Farbe abkratzen und ihn mit der Leinwand ersticken oder strangulieren: kein perfekter Mord, aber ein perfekter Ästhetenmord. Es würde auch nicht leicht sein, einen so kerngesunden Burschen in sein Jenseits zu befördern, Sommerwild ist groß und schlank, eine

»würdige Erscheinung«, weißhaarig und »gütig«, Alpinist und stolz darauf, daß er an zwei Weltkriegen teilgenommen und das silberne Sportabzeichen gemacht hat. Ein zäher, gut trainierter Gegner. Ich mußte unbedingt einen wertvollen Kunstgegenstand aus Metall auftreiben, aus Bronze oder Gold, vielleicht auch aus Marmor, aber ich konnte ja schlecht vorher nach Rom fahren und aus den vatikanischen Museen etwas klauen. Während das Badewasser einlief, fiel mir Blothert ein, ein wichtiges Mitglied des Kreises, das ich nur zweimal gesehen hatte. Er war so etwas wie der »rechte Gegenspieler« von Kinkel, Politiker wie dieser, aber »mit anderem Hintergrund und aus anderem Raum kommend«; für ihn war Züpfner, was Fredebeul für Kinkel war: eine Art Adlatus, auch »geistiger Erbe«, aber Blothert anzurufen wäre weniger sinnvoll gewesen, als wenn ich meine Wohnzimmerwände um Hilfe gebeten hätte. Das einzige, was in ihm halbwegs erkennbare Lebenszeichen hervorrief, waren Kinkels Barockmadonnen. Er verglich sie auf eine Weise mit seinen, die mir klar machte, wie abgründig die beiden einander hassen. Er war Präsident von irgend etwas, von dem Kinkel gern Präsident geworden wäre, sie duzten sich noch von einer

gemeinsamen Schule her. Ich erschrak jedes der beiden Male, als ich Blothert sah.

Er war mittelgroß, hellblond und sah wie fünfundzwanzig aus, wenn einer ihn ansah, grinste er, wenn er etwas sagte, knirschte er erst eine halbe Minute mit den Zähnen, und von vier Worten, die er sagte, waren zwei »der Kanzler« und »Katholon« - und dann sah man plötzlich, daß er über fünfzig war, und er sah aus, wie ein durch geheimnisvolle Laster gealterter Abiturient. Unheimliche Erscheinung. Manchmal verkrampfte er sich, wenn er ein paar Worte sagte, fing an zu stottern und sagte »der Ka ka ka ka«, oder »das ka ka ka«, und ich hatte Mitleid mit ihm, bis er endlich das restliche »nzler« oder »tholon« herausgespuckt hatte. Marie hatte mir von ihm erzählt, er sei auf eine geradezu »sensationelle Weise intelligent«. Ich habe nie Beweise für diese Behauptung bekommen, ihn nur bei einer Gelegenheit mehr als zwanzig Worte sprechen hören: als im Kreis über die Todesstrafe gesprochen wurde. Er war »ohne jede Einschränkung dafür« gewesen, und was mich an dieser Äußerung verwunderte, war nur die Tatsache, daß er nicht das Gegenteil heuchelte. Er sprach mit einer triumphierenden Wonne im Gesicht, verhaspelte sich wieder mit seinem Ka ka, und es klang, als schlage er bei jedem Ka jemand den Kopf ab. Er sah mich manchmal an, und jedesmal mit einem Staunen, als müßte er sich »unglaublich« verkneifen, das Kopfschütteln verkniff er sich nicht. Ich glaube, jemand, der nicht katholisch ist, existiert für ihn gar nicht. Ich dachte immer, wenn die Todesstrafe eingeführt würde, würde er dafür plädieren, alle Nicht-Katholiken hinzurichten. Er hatte auch eine Frau, Kinder und ein Telefon. Dann wollte ich doch lieber noch einmal meine Mutter anrufen. Blothert fiel mir ein, als ich an Marie dachte. Er würde ja bei ihr aus- und eingehen, er hatte irgend etwas mit dem Dachverband zu tun, und die Vorstellung, daß er zu ihren Dauergästen gehören wird, machte mir Angst. Ich habe sie sehr gern, und ihre Pfadfinderworte: »Ich muß den Weg gehen, den ich gehen muß«, waren vielleicht wie die Abschiedslosung einer Urchristin zu verstehen, die

sich den Raubtieren vorwerfen läßt. Ich dachte auch an Monika Silvs

und wußte, daß ich irgendwann ihre Barmherzigkeit annehmen würde. Sie war so hübsch und so lieb, und sie war mir im Kreis noch weniger passend vorgekommen als Marie. Ob sie in der Küche hantierte - ich hatte auch ihr einmal geholfen, Schnittchen zu machen —, ob sie lächelte, tanzte oder malte, es war so selbstverständlich, wenn auch die Bilder, die sie malte, mir nicht gefielen. Sie hatte sich von Sommerwild zu viel von Verkündigung und Aussage vorreden lassen und malte fast nur noch Madonnen. Ich würde versuchen, ihr das auszureden. Es kann ja gar nicht gelingen, selbst wenn man dran glaubt und gut malen kann. Sie sollten die ganze Ma- donnenmalerei den Kindern überlassen oder frommen Mönchen, die sich nicht für Künstler halten. Ich überlegte, ob es mir gelingen würde, Monika das Madonnenmalen auszureden. Sie ist keine Dilettantin, noch jung, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, bestimmt unberührt - und diese Tatsache flößt mir Angst ein. Es kam mir der fürchterliche Gedanke, daß die Katholiken mir die Rolle zugedacht hatten, für sie den Siegfried zu spielen. Sie würde schließlich mit mir ein paar Jahre zusammenleben, nett sein, bis die Ordnungsprinzipien zu wirken anfingen, und dann würde sie nach Bonn zurückkehren und von Severn heiraten. Ich wurde rot bei diesem Gedanken und ließ ihn fallen. Monika war so lieb, und ich mochte sie nicht zum Gegenstand boshafter Überlegungen machen. Falls ich mich verabredete, mußte ich ihr zunächst Sommerwild ausreden, diesen Salonlöwen, der fast wie mein Vater aussieht. Nur stellt mein Vater keinen anderen Anspruch, als ein halbwegs humaner Ausbeuter zu sein, und diesem Anspruch genügt er. Bei Sommerwild habe ich immer den Eindruck, daß er genausogut Kur- oder Konzertdirektor, Public Relations- Manager einer Schuhfabrik, ein gepflegter Schlagersänger, vielleicht auch Redakteur einer »gescheit« gemachten, modischen Zeitschrift sein könnte. Er hält jeden Sonntagabend eine Predigt in St. Korbinian. Marie hat mich zweimal dorthin

geschleppt. Die Vorführung ist peinlicher, als Sommerwilds Behörden erlauben

lese ich doch lieber Rilke, Hofmannsthal, Newman einzeln, als daß ich mir aus den dreien eine Art Honigwasser zurechtmischen lasse. Mir brach während der Predigt der Schweiß aus. Mein vegetatives Nervensystem verträgt bestimmte Erscheinungsformen von Unnatur nicht. Daß das Seiende sei und das Schwebende schwebe - mir wird angst, wenn ich solche Ausdrücke höre. Da ist es mir schon lieber, wenn ein hilfloser dicklicher Pastor von der Kanzel die unfaßbaren Wahrheiten dieser Religion herunterstammelt und sich nicht einbildet, »druckreif« zu sprechen. Marie war traurig, weil mir gar nichts an Sommerwilds Predigten imponiert hatte. Besonders quälend war, daß wir nach der Predigt in einem Cafe in der Nähe der Korbiniankirche hockten, das ganze Cafe sich mit künstlerischen Menschen füllte, die aus Som- merwilds Predigt kamen. Dann kam er selbst, es bildete sich eine Art Kreis um ihn, und wir wurden in den Kreis einbezogen, und dieses halbseidene Zeug, das er von der Kanzel heruntergesagt hatte, wurde noch zwei-, drei-, bis zu viermal wiedergekäut. Eine bildhübsche junge Schauspielerin mit goldenem langem Haar und einem Engelsgesicht, von der Marie mir zuflüsterte, daß sie schon zu »drei Vierteln« konvertiert sei, war drauf und dran, Sommerwild die Füße zu küssen. Ich glaube, er hätte sie nicht daran gehindert.

Ich drehte das Badewasser ab, zog den Rock aus, Hemd und Unterhemd über den Kopf, und warf sie in die Ecke und wollte gerade ins Bad steigen, als das Telefon klingelte. Ich kenne nur einen Menschen, der das Telefon so vital und männlich ans Klingeln bringen kann: Zohnerer, mein Agent. Er spricht so nah und aufdringlich ins Telefon, daß ich jedesmal Angst habe, seine Spucke mitzubekommen. Wenn er mir Freundliches sagen will, fängt er das Gespräch mit: »Sie waren gestern großartig« an; das sagt er einfach, ohne zu wissen, ob ich wirklich großartig war oder nicht; wenn er mir Unfreundliches sagen will, fängt er an mit: »Hören Sie, Schnier, Sie sind kein

Chaplin«; er meinte damit gar nicht, ich wäre kein so guter Clown wie Chaplin,

wäre nicht berühmt genug, um mir irgend etwas zu erlauben, über das sich Zohnerer geärgert hat. Heute würde er nicht einmal Unfreundliches sagen, er würde auch nicht, wie er es immer tat, wenn ich eine Vorstellung abgesagt hatte, den bevorstehenden

Weltuntergang verkünden. Er würde mich nicht einmal der »Absagehysterie« bezichtigen. Wahrscheinlich hatten auch Offenbach, Bamberg und Nürnberg abge- sagt, und er würde mir am Telefon vorrechnen, wieviel Unkosten inzwischen auf meinem Konto stünden. Der Apparat klingelte weiter, kräftig, männlich, vital, ich war drauf und dran, ein Sofakissen drüberzuwerfen -, zog aber meinen Bademantel über, ging ins Wohnzimmer und blieb vor dem klingelnden Telefon stehen. Manager haben Nerven, Standvermögen, Worte wie »Sensibilität der Künstlerseele« sind für sie Worte wie »Dortmunder Aktienbier«, und jeder Versuch, mit ihnen ernsthaft über Kunst und Künstler zu reden, wäre reine Atemverschwendung. Sie wissen auch genau, daß selbst ein gewissenloser Künstler tausendmal mehr Gewissen hat als ein gewissenhafter Manager, und sie besitzen eine Waffe, gegen die keiner ankommt: die nackte Einsicht in die Tatsache, daß ein Künstler gar nicht anders kann, als machen, was er macht: Bilder malen, als Clown durch die Lande ziehen, Lieder singen, aus Stein oder Granit »Bleibendes« herauszuhauen. Ein Künstler ist wie eine Frau, die gar nicht anders kann als lieben, und die auf jeden hergelaufenen männlichen Esel hereinfällt. Zur Ausbeutung eignen sich am besten Künstler und Frauen, und jeder Manager hat zwischen eins und neunundneunzig Prozent von einem Zuhälter. Das Klingeln war reines Zuhälterklingeln. Er hatte natürlich von Kostert erfahren, wann ich von Bochum abgefahren war, und wußte genau, daß ich zu Hause war. Ich band den Bademantel zu und nahm den Hörer auf. Sofort schlug mir sein Bieratem ins Gesicht. »Verflucht, Schnier«, sagte er, »was soll das, mich so lange warten zu lassen.«

»Ich unternahm gerade den bescheidenen Versuch, ein Bad zu nehmen«, sagte

»Ihr Humor kann nur Galgenhumor sein«, sagte er.


»Wo ist der Strick«, sagte ich, »baumelt er schon?«


»Lassen wir die Symbolik«, sagte er, »reden wir über die Sache.«


»Ich habe nicht mit Symbolen angefangen«, sagte ich.


»Egal, wer von was angefangen hat«, sagte er, »Sie scheinen also fest entschlossen, künstlerisch Selbstmord zu begehen.«

»Lieber Herr Zohnerer«, sagte ich leise, »würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie Ihr Gesicht etwas vom Hörer abwendeten - ich krieg Ihren Bieratem so unmittelbar ins Gesicht.«

Er fluchte in Rotwelsch vor sich hin: »Knordenpuppe, Faikenegon«, lachte dann:


»Ihre Frechheit scheint ungebrochen. Wovon sprachen wir noch?«


»Von Kunst«, sagte ich, »aber wenn ich bitten dürfte: reden wir lieber übers Geschäft.«

»Dann hätten wir kaum noch miteinander zu reden«, sagte er, »hören Sie, ich gebe Sie nicht auf. Verstehen Sie mich?«

Ich konnte vor Erstaunen nicht antworten.


»Wir ziehen Sie für ein halbes Jahr aus dem Verkehr, und dann baue ich Sie wieder auf. Ich hoffe, dieser Schleimscheißer in Bochum hat Sie nicht ernsthaft getroffen?«

»Doch«, sagte ich, »er hat mich betrogen - um eine Flasche Schnaps und das, was eine Fahrt erster Klasse nach Bonn mehr kostet als zweiter.«

»Es war Schwachsinn von Ihnen, sich das Honorar herunterhandeln zu lassen. Vertrag ist Vertrag - und durch den Unfall ist Ihr Versagen erklärt.«

»Zohnerer«, sagte ich leise, »sind Sie wirklich so menschlich oder . . .«


»Quatsch«, sagte er, »ich habe Sie gern. Falls Sie das noch nicht bemerkt haben, sind Sie blöder, als ich dachte, und außerdem, in Ihnen steckt geschäftlich noch was drin.

Lassen Sie doch diese kindische Sauferei.«

Er hatte recht. Kindisch war der richtige Ausdruck dafür. Ich sagte: »Es hat mir aber geholfen.« »Wobei?« fragte er. »Seelisch«, sagte ich.

»Quatsch«, sagte er, »lassen Sie doch die Seele aus dem Spiel. Wir könnten natürlich Mainz wegen Vertragsbruchs verklagen und würden wahrscheinlich gewinnen - aber ich rate ab. Ein halbes Jahr Pause - und ich baue Sie wieder auf.«

»Und wovon soll ich leben?« fragte ich.


»Na«, sagte er, »ein bißchen wird Ihr Vater doch rausrücken.«


»Und wenn ers nicht tut?«


»Dann suchen Sie sich eine nette Freundin, die Sie so lange aushält.«


»Ich würde lieber tingeln gehen«, sagte ich, »über Dörfer und Städtchen, mit dem Fahrrad.«

»Sie täuschen sich«, sagte er, »auch in Dörfern und Städtchen werden Zeitungen gelesen, und im Augenblick werde ich Sie nicht für zwanzig Mark den Abend an Jünglingsvereine los.«

»Haben Sie's versucht?« fragte ich.


»Ja«, sagte er, »ich habe den ganzen Tag Ihretwegen telefoniert. Nichts zu machen. Es gibt nichts Deprimierenderes für die Leute als einen Clown, der Mitleid erregt. Das ist wie ein Kellner, der im Rollstuhl kommt und Ihnen Bier bringt. Sie machen sich Illusionen.«

»Sie nicht?« fragte ich. Er schwieg, und ich sagte: »Ich meine, wenn Sie annehmen, nach einem halben Jahr könnte ichs wieder probieren.«

»Vielleicht«, sagte er, »aber es ist die einzige Chance. Besser wäre, ein ganzes Jahr warten.«

»Ein Jahr«, sagte ich, »wissen Sie, wie lange ein Jahr dauert?« -

»Dreihundertfünfundsechzig Tage«, sagte er, und er wendete mir wieder rücksichtslos sein Gesicht zu. Der Bieratem ekelte mich an.

ich, »mit einer neuen Nase und anderen Nummern. Lieder zur Guitarre und ein bißchen Jonglieren.«

»Quatsch«, sagte er, »Ihre Singerei ist zum Heulen und Ihr Jonglieren ist purer Dilettantismus. Alles Quatsch. Sie haben das Zeug zu einem ganz guten Clown, vielleicht sogar zu einem guten, und melden Sie sich nicht wieder bei mir, ehe Sie nicht mindestens ein Vierteljahr lang täglich acht Stunden trainiert haben. Ich komme dann und schau mir Ihre neuen Nummern an - oder alte, aber trainieren Sie, lassen Sie die blöde Sauferei.«

Ich schwieg. Ich hörte ihn keuchen, an seiner Zigarette ziehen.


»Suchen Sie sich wieder so eine treue Seele«, sagte er, »wie das Mädchen, das mit Ihnen gereist ist.«

»Treue Seele«, sagte ich.


»Ja«, sagte er, »alles andere ist Quatsch. Und bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten ohne mich fertig werden und in miesen Vereinen herumtingeln. Das geht drei Wochen gut, Schnier, da können Sie bei Feuerwehrjubiläen ein bißchen Unsinn machen und mit dem Hut rumgehen. Sobald ichs erfahre, schnüre ich Ihnen das alles ab.«

»Sie Hund«, sagte ich.


»Ja«, sagte er, »ich bin der beste Hund, den Sie finden können, und wenn Sie anfangen, auf eigne Faust tingeln zu gehen, sind Sie in spätestens zwei Monaten vollkommen erledigt. Ich kenn das Geschäft. Hören Sie?«

Ich schwieg. »Ob Sie hören?« fragte er leise.


»Ja«, sagte ich.


»Ich habe Sie gern, Schnier«, sagte er, »ich habe gut mit Ihnen gearbeitet - sonst würde ich nicht ein so kostspieliges Telefongespräch mit Ihnen führen.«

»Es ist sieben vorbei«, sagte ich, »und der Spaß kostet Sie schätzungsweise zwei

Quetschen Sie aus Ihrem Alten soviel raus, wie Sie können. Tschüs.«


Er hing tatsächlich ein. Ich hielt den Hörer noch in der Hand, hörte das Tuten, wartete, legte nach langem Zögern erst auf. Er hatte mich schon ein paar Mal beschwindelt, aber nie belogen. Zu einer Zeit, wo ich wahrscheinlich zweihun- dertfünfzig Mark pro Abend wert gewesen wäre, hatte er mir Hundertachtzigmarkverträge besorgt - und wahrscheinlich ganz nett an mir verdient. Erst als ich aufgelegt hatte, wurde mir klar, daß er der erste war, mit dem ich gern noch länger telefoniert hätte. Er sollte mir irgendeine andere Chance geben - als ein halbes Jahr warten. Vielleicht gab es eine Artistengruppe, die jemand wie mich brauchte, ich war nicht schwer, schwindelfrei und konnte nach einigem Training ganz gut ein bißchen Akrobatik mitmachen, oder mit einem anderen Clown zusammen Sketche einstudieren. Marie hatte immer gesagt, ich brauche ein

»Gegenüber«, dann würden mir die Nummern nicht so langweilig. Zohnerer hatte bestimmt noch nicht alle Möglichkeiten bedacht. Ich beschloß, ihn später anzurufen, ging ins Badezimmer zurück, warf den Bademantel ab, die übrigen Kleider in die Ecke und stieg in die Wanne. Ein warmes Bad ist fast so schön wie Schlaf. Unterwegs hatte ich immer, auch als wir noch wenig Geld hatten, Zimmer mit Bad genommen. Marie hatte immer gesagt, für diese Verschwendung sei meine Herkunft ver- antwortlich, aber das stimmt nicht. Zu Hause waren sie mit warmem Badewasser so geizig gewesen wie mit allem anderen. Kalt duschen, das durften wir jederzeit, aber ein warmes Bad galt auch zu Hause als Verschwendung, und nicht einmal Anna, die sonst ein paar Augen zudrückte, war in diesem Punkt umzustimmen gewesen. In ihrem I. R. 9 hatte offenbar ein warmes Wannenbad als eine Art Todsünde gegolten.

Auch in der Badewanne fehlte mir Marie. Sie hatte mir manchmal vorgelesen, wenn ich in der Wanne lag, vom Bett aus, einmal aus dem Alten Testament die ganze

Geschichte von Salomon und der Königin von Saba, ein anderes Mal den

Kampf der Machabäer, und hin und wieder aus ›Schau heimwärts, Engel ‹ von Thomas Wolfe. Jetzt lag ich vollkommen verlassen in dieser dummen, rostroten Badewanne, das Badezimmer war schwarzgekachelt, aber Wanne, Seifenschale, Duschengriff und Klobrille waren rostfarben. Mir fehlte Maries Stimme. Wenn ich es mir überlegte, konnte sie nicht einmal mit Züpfner in der Bibel lesen, ohne sich wie eine Verräterin oder Hure vorzukommen. Sie würde an das Hotel in Düsseldorf denken müssen, wo sie mir von Salomon und der Königin von Saba vorgelesen hatte, bis ich in der Wanne vor Erschöpfung einschlief. Die grünen Teppiche in dem Hotelzimmer, Maries dunkles Haar, ihre Stimme, dann brachte sie mir eine brennende Zigarette, und ich küßte sie.

Ich lag bis obenhin im Schaum und dachte an sie. Sie konnte gar nichts mit ihm oder bei ihm tun, ohne an mich zu denken. Sie konnte nicht einmal in seiner Gegenwart den Deckel auf die Zahnpastatube schrauben. Wie oft hatten wir miteinander gefrühstückt, elend und üppig, hastig und ausgiebig, sehr früh am Morgen, spät am Vormittag, mit sehr viel Marmelade und ohne. Die Vorstellung, daß sie mit Züpfner jeden Morgen um dieselbe Zeit frühstücken würde, bevor er in seinen Wagen stieg und in sein katholisches Büro fuhr, machte mich fast fromm. Ich betete darum, daß es nie sein würde: Frühstück mit Züpfner. Ich versuchte mir Züpfner vorzustellen : braunhaarig, hellhäutig, gerade gewachsen, eine Art Alkibiades des deutschen Katholizismus, nur nicht so leichtfertig. Er stand nach Kinkels Aussage »zwar in der Mitte, aber doch mehr nach rechts als nach links.« Dieses Links-und-rechts-stehen war eines ihrer Hauptgesprächsthemen. Wenn ich ehrlich war, mußte ich Züpfner zu den vier Katho- liken, die mir als solche erschienen, hinzuzählen: Papst Johannes, Alec Guinness, Marie, Gregory - und Züpfner. Gewiß hatte auch bei ihm bei aller möglichen Verliebtheit die Tatsache eine Rolle gespielt, daß er Marie aus einer sündigen in eine

sündenlose Situation rettete. Das Händchenhalten mit Marie war offenbar nichts

Marie später darüber geredet, sie war rot geworden, aber auf eine nette Art, und hatte mir gesagt, es »wäre viel zusammengekommen« bei dieser Freundschaft: daß ihre Väter beide von den Nazis verfolgt gewesen wären, auch der Katholizismus, und

»seine Art, weißt du. Ich hab ihn immer noch gern.« Ich ließ einen Teil des lau gewordenen Badewassers ablaufen, heißes zulaufen und schüttete noch etwas von dem Badezeug ins Wasser. Ich dachte an meinen Vater, der auch an dieser Badezeugfabrik beteiligt ist. Ob ich mir Zigaretten kaufe, Seife, Schreibpapier, Eis am Stiel oder Würstchen: mein Vater ist daran beteiligt. Ich vermute, daß er sogar an den zwei- einhalb Zentimetern Zahnpasta, die ich gelegentlich verbrauche, beteiligt ist. Über Geld durfte aber bei uns zu Hause nicht gesprochen werden. Wenn Anna mit meiner Mutter abrechnen, ihr die Bücher zeigen wollte, sagte meine Mutter immer: »Über Geld sprechen - wie gräßlich.« Ein Ä fällt bei ihr hin und wieder, sie spricht es ganz nah an E aus. Wir bekamen nur sehr wenig Taschengeld. Zum Glück hatten wir eine große Verwandtschaft, wenn sie alle zusammengetrommelt wurden, kamen fünfzig bis sechzig Onkels und Tanten zusammen, und einige davon waren so nett, uns hin und wieder etwas Geld zuzustecken, weil die Sparsamkeit meiner Mutter sprichwörtlich war. Zu allem Überfluß ist die Mutter meiner Mutter adelig gewesen, eine von Hohenbrode, und mein Vater kommt sich heute noch wie ein gnädig aufgenommener Schwiegersohn vor, obwohl sein Schwiegervater Tuhler hieß, nur seine Schwiegermutter eine geborene von Hohenbrode war. Die Deutschen sind ja heute adelsüchtiger und adelsgläubiger als 1910. Sogar Menschen, die für intelligent gehalten werden, reißen sich um Adelsbekanntschaften. Ich müßte auch auf diese Tatsache einmal Mutters Zentralkomitee aufmerksam machen. Es ist eine Rassenfrage. Selbst ein so vernünftiger Mann wie mein Großvater kann es nicht verwinden, daß die Schniers im Sommer 1918 schon geadelt werden sollten, daß es

»sozusagen« schon aktenkundig war, aber dann türmte im entscheidenden

der Kaiser, der das Dekret hätte unterschreiben müssen - er hatte wohl andere Sorgen


  • wenn er überhaupt je Sorgen gehabt hat. Diese Geschichte von dem »Fast-Adel« der Schniers wird noch heute nach fast einem halben Jahrhundert bei jeder Gelegenheit erzählt. »Man hat das Dekret in Seiner Majestät Schreibmappe gefunden«, sagt mein Vater immer. Ich wundere mich, daß keiner nach Doorn gefahren ist und das Ding noch hat unterschreiben lassen. Ich hätte einen reitenden Boten dorthin geschickt, dann wäre die Angelegenheit wenigstens in einem ihr angemessenen Stil erledigt worden.

    Ich dachte, wie Marie, wenn ich schon in der Badewanne lag, die Koffer auspackte. Wie sie vor dem Spiegel stand, die Handschuhe auszog, die Haare glatt strich; wie sie die Bügel aus dem Schrank nahm, die Kleider darüber hängte, die Bügel wieder in den Schrank; sie knirschten auf der Messingstange. Dann die Schuhe, das leise Geräusch der Absätze, das Scharren der Sohlen, und wie sie ihre Tuben, Fläschchen und Tiegel auf die Glasplatte am Toilettentisch stellte; den großen Cremetiegel, oder die schmale Nagellackflasche, die Puderdose und den harten metallischen Laut des aufrecht hingestellten Lippenstifts.

    Ich merkte plötzlich, daß ich angefangen hatte, in der Badewanne zu weinen, und ich machte eine überraschende physikalische Entdeckung: meine Tränen kamen mir kalt vor. Sonst waren sie mir immer heiß vorgekommen, und ich hatte in den vergangenen Monaten einige Male heiße Tränen geweint, wenn ich betrunken war. Ich dachte auch an Henriette, meinen Vater, an den konvertierten Leo und wunderte mich, daß er sich noch nicht gemeldet hatte.


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